Europa in sieben Tagen Moralische Vermessungen by Clemens Sedmak

Europa in sieben Tagen Moralische Vermessungen by Clemens Sedmak

Autor:Clemens Sedmak
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Anton Pustet
veröffentlicht: 2007-11-15T00:00:00+00:00


5.) Vernunft im Religiösen: der 12. September

Der 12. September 2006 war ein sonniger Spätsommertag, auch in Regensburg. In den würdigen Räumen der Aula Magna der Universität hielt ein ehemaliger Professor eine Vorlesung. Er kam als Papst, wobei nicht immer ganz klar war, ob hier ein Papst die Rolle eines Professors einnahm oder ein Professor das Gewand des Papstes auszufüllen suchte. Die Regensburger Vorlesung von Benedikt XVI. mit ihrem klaren Appell an die Bedeutung der Vernunft und des öffentlichen Vernunftgebrauchs in Fragen des Religiösen hat unter dem Eindruck des bekannten Zitats, an dem die muslimische Welt (und nicht nur diese!) Anstoß genommen hat, eine verzerrte Rezeptionsgeschichte erfahren, die sich auf dieses Zitat und nicht auf die Kernbotschaft der Vorlesung konzentrierte. Es soll hier auch nicht um Exegese der päpstlichen Rede gehen, sondern um das Anliegen der Begegnung von Glaube und Vernunft. Die Universität, so erinnerte uns Benedikt XVI., ist der genuine Ort, an dem diese Begegnung stattfinden kann und soll, um des Friedens willen. Der 12. September steht für eine moralische Ressource Europas, für Religion wie auch für öffentlichen Vernunftgebrauch. Vernunftgebrauch hat mit der Kunst propositionalen Abwiegens zu tun, mit der Fähigkeit, Geltungsansprüche prüfen und begründen zu können.

Europas Identität hängt maßgeblich mit dem Verhältnis von Vernunft und Glaube zusammen. Dies haben die heftigen Debatten um das Kopftuch oder das Kruzifix gezeigt oder auch die Diskussionen um das Wertefundament Europas, das sich zwischen jüdisch-christlichem Personbegriff und aufklärerischem Autonomieverständnis bewegt. Die Diskussion um das Verhältnis von Glaube und Vernunft tangiert immer auch die Frage nach der Vergegenwärtigung des Religiösen im öffentlichen Raum. Der 12. September ist ein Tag, an dem die Frage nach dem Stellenwert des Religiösen mit den Mitteln eines vernünftigen Vortrags im öffentlichen Raum der Universität diskutiert wurde. Damit bietet sich der 12. September auch als Kandidat für moralische Ressourcen an. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass religiöse Bindungen und Selbstverpflichtungen Quelle moralischer Orientierung sind. Denn Religion kann verstanden werden als Verhältnis zur Welt als Ganzer und zum Leben als Solchem. Religionen konstruieren einen „symbolischen Kosmos“, der es erlaubt, den Horizont menschlicher Erfahrungen tiefgründig zu deuten, leid- oder freudvolle Erfahrung zu einer Gelegenheit geistlichen Wachstums werden zu lassen und das Leben selbst zu einer durchaus vorläufigen und hinführenden Veranstaltung. Religion zu einer Quelle erstaunlicher Kraft, die sich in Opferbereitschaft, Leidensvermögen und der Fähigkeit ausdrückt, mit Widrigkeiten umzugehen und den eigenen Standpunkt unter erschwerten Umständen zu behaupten. Diese Kraft soll nicht unterschätzt den; sie rührt daher, dass religiöse Zugehörigkeit eine Identität schafft, die sich von den „gemachten“ und „errungenen“ Identitätsmodellen der Moderne unterscheidet. Religiöse Identität hat mehr mit Auftrag und Aufgabe, mit Gabe und Unverfügbarkeit, mit Unverletzbarkeit und Kraft zu tun. Gottgeschenkte Identität ist tiefer und fester als menschengemachtes Selbstbild. Dass gerade in dieser Unverfügbarkeit religiöser Identität, die auf viele Weisen manipuliert werden kann, die Zweideutigkeit aller religiöser Weltdeutung liegt, soll nicht verschwiegen werden – eine religiöse Deutung der Welt zwingt sich aus dem Gang der Welt nicht auf, bleibt mit einem unauslöschlichen Moment des Willkürlichen versehen und kann auch stets durch alternative religiöse Deutungen ersetzt werden.



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